Unser Leben ist vorbei
- B&M
- 25. März 2020
- 8 Min. Lesezeit
Ein kleiner Ausschnitt aus unserem aktuellen Alltag: Als Ausländer fallen wir hier schon ein wenig auf – ein paar Leute ziehen sich die Masken tiefer ins Gesicht, wenn wir vorbeigehen – Meghalaya versucht, aktuell das Virus nicht in den Staat zu lassen – es dürfen nur noch die notwendigen Shops geöffnet haben – und dies nur jeden dritten Tag – d.h. jeden dritten Tag sind alle Shops überfüllt – auch wir gehen an einem dieser Tage einkaufen – Abstand kann hier nicht wirklich eingehalten werden – mal schauen, wie sinnvoll diese Maßnahmen dann wirklich sind – letztes Wochenende gab es eine nationale Ausgangssperre (Janatan Curfew) – wir sehen Videos im Internet, wie danach auf den Straßen in den Hauptstädten gefeiert wird – sieht nicht nach „social distancing“ aus – gestern war ein Tag, an dem die Geschäfte geschlossen haben – wir gehen auf den Sportplatz und werfen zu viert ein wenig die Frisbee hin und her – in einer Ecke sitzen 15 Inder dicht zusammen – die Regel der Regierung, dass nur Gruppen bis 5 Personen erlaubt sind, scheint nicht wirklich eingehalten zu werden – allerdings gibt es ausdrücklich auch keine Ausgangssperre – drei Polizisten kommen auf den Sportplatz – jemand hat sie gerufen?! – diese kommen zielstrebig auf uns zu – weil wir weiß sind? – immerhin sind wir nur zu viert – kurze Diskussion mit der Polizei – wir sagen, dass wir nichts Verbotenes tun und man sich lieber um die Aufklärung der Bevölkerung kümmern sollte als um uns – sie erklären uns, dass es verboten ist, sich auf Plätzen aufzuhalten – man darf rumlaufen, aber nicht stehen bleiben – in den offiziellen Angaben des Staats, die wir als PDF gelesen haben, steht was anderes – anstatt auf unsere Argumente und Fragen einzugehen, wiederholt die Polizei ihre Phrasen immer und immer wieder – „zum Schutz der Bevölkerung“, „in Bewegung zu sein geht, an einem Ort zu bleiben nicht“, „wollen nicht, dass das Virus sich ausbreitet“ – Maries Argument, dass es sich noch mehr ausbreitet, wenn man durch die ganze Stadt läuft, scheint nicht anzukommen – wir sollen unsere Namen auf ein Blatt schreiben – wir wollen den Stift nicht anfassen und diktieren unsere Namen – Marie und Benno sagen, dass sie denselben Namen haben – Andy und Andy auch – wir raten den Polizisten, die große Gruppe Inder zu trennen – was diese auch tun – wir bitten erneut um weitere Aufklärung und stellen Fragen – sie sind eher besorgt als streng – das endet darin, dass zwei der drei Polizisten anfangen zu telefonieren – Marie fragt den dritten, wie er denn mit der Situation umgeht – er kenne die Regeln nicht, sagt er und dass wir die anderen Polizisten fragen sollen – Marie ist überrascht, dass er die Regeln nicht kennt – eigentlich sollte die doch jeder kennen in der aktuellen Situation – vor allem die Polizei – die zwei anderen Polizisten sind nicht mehr vom Telefon wegzukriegen – diese wollen dann Fotos von uns machen – wir verneinen – wir gehen nach Hause – keine Sorge, wir werden uns nicht gegen die Staatsgewalt widersetzen – diese Eigenschaft, die Dinge nicht logisch zu hinterfragen, stört uns aber schon ein bisschen – blinder Gehorsam mag in der aktuellen Situation ganz gut sein – aber kann auch gefährlich enden – heute die neueste Info: 21 Tage Lockdown und Ausgangssperre – einkaufen soll aber noch irgendwie möglich sein an jedem dritten Tag
Der Titel und vielleicht auch der Inhalt des Artikels hören sich dramatisch an und so ist es ja auch. Unser Leben ist zunächst vorbei. Unser Leben, wie wir es hatten, werden wir kurzfristig bis mittelfristig nicht wiedererhalten können. So geht es aktuell vielen Menschen auf der Welt. Allerdings ist unser komplettes Fundament, unser Alltag, unser Zuhause auf der Straße und damit unser Flow nun komplett futsch. Wir haben keine feste Wohnung, keine Jobs. Wir sind knapp unter 10.000 km gefahren und haben keine Pläne gehabt, unsere Reise zu stoppen oder zu pausieren. Mal etwas länger an einem Ort bleiben, das war ein Plan. Im Sommer nach Deutschland zu fliegen und ein paar Umarmungen zu verteilen, Hände zu schütteln, unsere Familie wiederzusehen, Hochzeitseinladungen wahrzunehmen, das stand bei Marie schon fest. Eigentlich. Die Freiheit, die Ereignisse einfach auf sich zukommen zu lassen, überwiegend ohne Einschränkungen (außer Polizeieskorten oder sonstiges) durch die Welt zu radeln, das ist jetzt weg. Dass wir uns schwertun, diese Änderung zu akzeptieren und der Weg zur Akzeptanz der Situation langsamer verläuft als die rasanten Gesetze, Grenzschließungen und Ausgangssperren, die überall auf der Welt passieren, ist - glauben wir - nachvollziehbar. Wenn ich es zulasse und an etliche wunderschöne Momente in der Vergangenheit auf dieser Reise denke und an die unglaublichen Erinnerungen, die auf dem Weg durch Südostasien noch gekommen wären, kann ich in wenigen Sekunden meine Augen tränen lassen. Nichtsdestotrotz ist die erstrebenswerte Akzeptanz der Situation die letzten Tage über gekommen und lässt nun die Möglichkeit entstehen, die Optionen abzuwägen.
Zur Einstimmung bitte folgende zwei Songs im Hintergrund während des Lesens laufen lassen: „Rescue me“ – Fontella Buss „Should I stay or should I go“ – The Clash
Die Optionen, Abwägungen, das Gefühl
Jeder von uns weiß, dass es Entscheidungen gibt, die unglaublich schwerfallen. Meiner Meinung nach liegt es daran, dass es in dem aktuellen Moment unmöglich erscheint, die Entscheidungsoptionen zu bewerten und damit die „vermeintlich“ bessere Entscheidung zu treffen. Bennos Bruder rät, dass jeder Abenteurer für sich selbst entscheiden muss, wann das Abenteuer abgebrochen werden muss. Genau dies macht einen „guten“ Abenteurer aus. Aber geht es hier wirklich um Überleben und Sterben? Nein, es ist weiterhin der Luxus, eine Entscheidung zu treffen, mit der es uns am Ende seelisch und körperlich weiterhin extrem gut gehen soll. Es geht um Sicherheit. Sicherheit über die Zukunft und Situation, Planbarkeit des Unplanbaren? Ein weiterer Rat, der uns erreicht hat, ist, dass wir uns das „Worst-Case“ und das „Best-Case“ Szenario in Indien überlegen sollen und anhand dessen weitere Optionen abwägen sollen. „Worst-Case“ ist der Tod – „Best-Case“ ist zu überleben. Naja, so einfach wollen wir es uns nicht machen. Es ist komplex, sehr komplex. Trotzdem hier ein Versuch, es zu vereinfachen und realistische Szenarien zu kreieren: „Best-Case“
Wir sitzen hier einen Monat fest und mit Maßnahmen (wie z.B.: Gesundheitszertifikate, Quarantäne) sind Grenzübergänge danach passierbar. Auf der Weiterreise werden wir ein wenig Diskriminierung erfahren und die Gastfreundschaft ist eingeschränkt. Wir nehmen die Möglichkeit wahr, eine andere („corona-geprägte“) Welt anders als wir es gewohnt sind zu bereisen. Wir lernen viel aus den Erfahrungen, in denen wir diskriminiert werden und unser Privileg als „Weiße Europäer“ ist (endlich?) aufgehoben.
„Worst-Case“
Wir sitzen hier lange fest, vielleicht 6 Monate? Einer von uns bekommt als erster Einwohner der Stadt das Virus und die indischen Nachbarn diskriminieren uns krass (By the way Marie fühlt sich heute etwas kränkelig). Wir können nicht mehr aus dem Haus ohne in Gefahr zu sein. Wir werden auf der Straße attackiert und unser Haus wird angezündet. Unser Vermieter muss für uns einkaufen (Hat er uns schon jetzt angeboten). Letztendlich müssen wir von der Deutschen Botschaft ausgeflogen werden. Wird es soweit kommen? Wird es soweit kommen, dass Grundnahrung nicht mehr verfügbar ist? Sollen wir den Teufel bereits an die Wände unseres Apartments malen? (Speak of the devil and the devil will show up!)
Wir sind aktuell in keiner schlechten Situation. Wir haben ein Apartment, eine warme Dusche und zwei nette und interessante Mitbewohner, die uns neuen Input geben. Wir haben uns gegenseitig. Wir haben eine Internetverbindung, machen Yoga, meditieren und machen gemeinsam Sport. Wir essen gut und gesund und haben sogar Netflix. Seit gestern haben wir auch ein Kartenspiel und unsere Kreativität wächst von Tag zu Tag, wir planen neue Videos für die Leute in Deutschland, für euch, die sich vielleicht freuen, wenn sie witzige Dinge gucken und sich die Zeit vertreiben können. Darüber hinaus ist unser Vermieter sehr sorgsam und wir sind damit in guten Händen.
Das Gefühl die Reise abzubrechen zu müssen ist, wie als wenn man eine Badewanne mühsam aufgefüllt hat und dann der Stöpsel undicht ist oder gezogen wird und man nichts dagegen machen kann. Verzweiflung kommt in uns hoch. In ein Deutschland zurückzukommen, in dem wir unsere Freunde und Familie nicht treffen können, ist auch nicht gerade erstrebenswert. Vielleicht ist die Pandemie einfach Teil der Reise, Teil des Abenteuers. Wenn wir abreisen, sind auch die anderen Zwei auf sich allein gestellt. Eine gewisse Verantwortung für unsere zwei Mitbewohner fühlen wir bereits jetzt. Die Zwei haben bisher noch keine Rückholaktion aus ihren Heimatländern angeboten bekommen. Was sollen die also machen? Alles selbst organisieren und dann an überfüllten Flughäfen 3 Tage (wenn es reicht) warten ohne Garantie, dass man weiterkommt? Und so überfüllt, wie die Flughäfen aktuell sind, ist das doch der beste Platz, um sich das Virus zu holen, oder nicht? Der eine Andy hat einen Vater, der schwer vorerkrankt ist und den er dann nicht besuchen würde. Wo soll er denn dann hin? Ist einfach gemeinsam hier bleiben eine gute Option?
Aber was ist, wenn hier alles schlimm wird und wir damit nicht mehr zurechtkommen? Der Opportunitätsgedanke lässt uns nur schwer Ruhe finden. Daher haben wir uns nun doch für die Rückholaktion der Deutschen Botschaft eingetragen. Aber ob wir dies in Anspruch nehmen wollen, ist weiterhin fraglich. Sicher ist jedoch, dass wir aktuell hier nicht ohne staatliche Hilfe über eine indische Staatsgrenze kommen. Bis nach Dehli sind es 1800 km auf dem Landweg. Shillong hat auch einen Flughafen. Soweit wir es verstehen, würde Deutschland alles nur Mögliche tun, um uns hier rauszuholen. Aber wollen und müssen wir das in Anspruch nehmen? Auf tagesschau.de wird aufgeklärt, dass wir stets ein Recht auf konsularischen Schutz im Ausland haben und im Notfall eine Rückführung organisiert wird. Wie krass ist das denn bitte? Und es kommt noch härter: „Dieses Recht wird auch dann nicht verwirkt, wenn sich ein Reisender jetzt gegen eine Rückkehr entscheidet, heißt es aus dem Auswärtigen Amt.“ Sollen wir uns auf diesem Recht ausruhen?
Das Telefon kann jeden Moment klingeln: „Hallo, Deutsche Botschaft Indien, Abenteuerrückholservice, Frau Goldhahn am Apparat. Wir holen Sie zurück, wir sind jetzt ein Team. Ich unterstütze Sie, so gut ich kann. Hubschrauber oder Mercedes?“ Naja,… so stellen wir es uns nicht vor, aber die Frage bleibt offen, was wir dann tun.
Einige Zeit später klingelt das Telefon wirklich, der Mann aus der deutschen Botschaft (zu sehen hier in dem Botschaftsvideo) ist dran. Er ist sachlich, konkret und kurz angebunden. Mit wie vielen deutschen Touristen telefoniert er aktuell täglich? Wir müssen uns bis Donnerstag (26.03.2020) entscheiden, ob wir einen Flieger aus Kalkutta nach Deutschland nehmen wollen (ca. 500€/Person). Anreise nach Kalkutta müsste dann von uns selbst organisiert werden. Er sagt, dass wenn es uns gut geht, wir auch hierbleiben können – wir sollen entscheiden. Er bleibt in Indien, seine Frau auch – alle anderen sind schon weg. Er ist zudem überrascht und sagt, dass wir die ersten sind, die keine Panik haben – bisher habe er nur mit panischen Deutschen telefoniert, die nach Hause wollen.
Marie kommt der Gedanke in den Kopf, dass sie auch hier als Ärztin helfen könnte und dass es vielleicht mal an der Zeit ist, sich nicht in sein privilegiertes Leben zurückzuziehen. Das hier mit den Indern durchzustehen. Klar, in Deutschland haben wir vermeintlich mehr Sicherheit, aber ist es nicht irgendwie fair, dass wir uns jetzt hier in dem Land mit unseren aktuellen Nachbarn auseinandersetzen anstatt zu flüchten? Die sind davon genauso betroffen wie wir. Diese Metapher vom „Krieg gegen Corona“ in den Nachrichten finden wir an sich übertrieben und bescheuert. Merkel hat es besser formuliert als viele andere Staatoberhäupter. Nichtsdestotrotz könnte man diese Metapher vielleicht gebrauchen und so die Menschheit zusammenschweißen. Immerhin findet der „Krieg“ ja gegen das Virus statt und alle Menschen müssen zusammenhalten und gegen es kämpfen. Andererseits kommen besorgte Anrufe und Nachrichten aus Deutschland – jeder hat Angst. Vor allem vor dem Unplanbaren. Das ist in unserer deutschen Gesellschaft und in dem durchgeplanten Alltag schon sehr eine sehr ungewöhnliche und herausfordernde Situation. Aber so sehr wir alle es vorhersehen oder planen wollen – es scheint nicht zu funktionieren. Also, was tun? Mein Lösungsversuch besteht darin zu vertrauen, dass es schon irgendwie wird. Vertrauen, dass es für irgendwas gut sein wird. Vertrauen in die Menschen, dass sie uns hier weiterhin gut behandeln.
Gestern wollte Benno eher nach Deutschland, heute würde er eher bleiben, wie wird es wohl morgen werden? Marie geht es genauso, nur manchmal genau gegensätzlich zu Benno. Heute sind wir beide der Meinung, dass es Teil der Reise werden könnte. Mal schauen, wie das so weiter geht......
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