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Gedankentagebuch von Marie

  • B&M
  • 5. Feb. 2020
  • 8 Min. Lesezeit

Hier unsere neuesten Slomo-Tänze mit TiPe. Nr. 1 und Nr. 2 Wir sind kreativ fast explodiert hier :)


Und hier noch ein kleines Video von einer abenteuerlichen Flußüberquerung.


Und nun geht es los:

Zeit, Geld, Luxus

Auf der Reise hab ich schon viel Zeit und das ist wirklich ein Luxus. Luxus - die Zeit und auch die Kapazitäten zu haben, sich über verschiedene Themen Gedanken zu machen, sich mit ihnen auch tiefergehend zu beschäftigen. Das hatte ich davor nie gedacht, dass das so bereichernd sein kann. Und wenn ich jetzt zurückblicke, frage ich mich, warum ich das nicht schon früher gemacht habe. Ich würde sagen, dass ich mit meinem Leben so auch ausgelastet genug war. Gearbeitet hab ich mit einer 80%-Stelle, bin die allermeiste Zeit sehr gerne zur Arbeit gegangen, hab dort viel gelernt. In meiner Freizeit hab ich viel Frisbee gespielt, mich mit Freunden getroffen, hab coole Sachen gemacht und war vor der Abreise richtig traurig, dass ich mich entschlossen hatte, auf eine Weltreise zu gehen. Mir ging es doch richtig gut und ich hatte meine Freunde um mich rum und ein gutes Leben. Das klingt vielleicht komisch, aber ich konnte mir nicht vorstellen, inwieweit ich von so einer Reise für mich noch profitieren sollte. Aber ich hatte schon allen erzählt, dass ich die Reise machen werde, vor allem Benno. :) So einfach kam ich da nicht mehr raus aus der Nummer.

Und jetzt gerade denke ich, dass ich richtig froh bin, losgefahren zu sein. Dass ich den Mut hatte, es durchzuziehen. Sicherlich hat es geholfen, dass wir zu zweit waren und uns da gegenseitig gepushed haben. Aber was ich jetzt alles schon gesehen und gelernt hab, das kann mir keiner mehr nehmen.

Und jetzt frage ich mich, ob es nicht möglich ist, arbeiten zu gehen, ausreichend Geld zu verdienen und trotzdem noch Kapazitäten und Zeit zu haben, um mir beispielsweise Podcasts oder Bücher zu gewissen Themen zu Gemüte zu führen. Um mich mit Rassismus, Feminismus, Weltanschauungen, etc. zu beschäftigen. Oder mich auch mal auf Fahrradfahrer einzulassen, die ich über warmshowers beherbergen möchte? Um mich endlich mal mit Buddhismus zu beschäftigen – nicht nur den Wikipedia-Artikel zu lesen, sondern mich richtig und tiefgründig reinzudenken? Oder würde das nicht mit meinem Lebensstil kompatibel sein?


Ich erinnere mich an ein Vorhaben, das ich mit einer Freundin hatte – wir wollten 1x/Woche oder sogar alle 2 Wochen für 1-2 Stunden mit einer Gruppe aus Mädels telefonieren und uns zu einem Thema austauschen, das uns beschäftigt. Mega coole Idee. Finde ich heute noch. Ist aber leider nie zustande gekommen, weil wir einfach „keinen Kopf“ dafür hatten. Also keine Kapazitäten, keine „Zeit“. Ich schreibe hier absichtlich die Anführungszeichen, weil Zeit relativ ist und es hier um meine Prioritäten-Setzung geht und nicht darum, dass ich keine Zeit gehabt hätte. Aber ich hatte das Gefühl, keine Kapazitäten dafür zu haben. Das hört sich für mich jetzt gerade schon fast wie eine Ausrede an, aber es war einfach so: zu anstrengend, zu mühsam, mich auf neue, vielleicht schwere Themen einzulassen. Lieber ins Kino gehen, Filme schauen, die mir ein gutes Gefühl geben, gutes Essen essen, witzige Videos schauen. Ein Film über moderne Sklaverei hat da einfach nicht so gut in mein Leben gepasst. Der hinterlässt kein gutes Gefühl. Und das gute Gefühl hatte ich mir doch schon irgendwie verdient, fand ich. Ich ging ja arbeiten, hatte auch sonst immer viel zu tun und wollte dann einfach mal entspannen.

Und jetzt denke ich darüber nach, ob ich nicht einen Job finden kann, der mir mehr gedankliche Freiheit in meiner Freizeit gibt. Gibt es so einen Job? Macht er dann auch Spaß? Darf ich dann überhaupt noch wählerisch sein? Und würde das Geld dann noch reichen? Und wie viel Geld brauche ich eigentlich?

Vielleicht wäre es jetzt auch anders, wo ich weiß, dass es so bereichernd sein kann, sich mit der Welt zu beschäftigen – den Problemen, die es außerhalb meiner kleinen „Bubble“ noch so gibt. Und dass ich nur dazulerne und weiterkomme, wenn ich mal andere Videos statt nur den „Wohlfühl-Videos“ zu schauen (mit Tieren, die witzige Sachen machen :)). Vielleicht würde ich meine Prioritäten anders setzen und das würde dann schon reichen, um alles unter einen Hut zu bringen.

Durch meinen Beruf als Ärztin und meinen ebenfalls wohlhabenden Mann habe ich, glaube ich, noch nie das Gefühl gehabt, dass ich mir etwas nicht leisten kann. Ich war nie arm, hatte immer ein Back-Up. Wenn ich Geld gebraucht habe, konnte ich mir notfalls auch was von meinen Eltern leihen. Vielleicht kann ich mir deshalb einfach nicht vorstellen, dass man arbeiten geht, um am Leben zu bleiben, um sein Essen kaufen zu können. Mein Luxusproblem ist, dass ich die Qual der Wahl habe, mir auszusuchen, was ich arbeiten will, wie ich leben will und was ich mit meinem Geld am besten anfangen will. Ich hab die Wahl. Viele Leute auf der Welt haben die nicht. Ist das fair? Sicherlich nicht.


Ich hab so viele Privilegien, dass ich mich jetzt auf der Reise immer wieder schuldig fühle. Privilegien, die ich einfach nur dadurch habe, dass ich in Deutschland in eine wohlhabende, weiße Familie reingeboren wurde. Ich hab nichts dafür gemacht. Und nun frage ich mich, was ich mit diesen Privilegien machen will. Wie kann ich diese Privilegien vielleicht nutzen? Ist es vielleicht auch meine Pflicht, mich für weniger privilegierte Menschen einzusetzen? Auf jeden Fall wurde ich mir das erste Mal über diese Privilegien so richtig bewusst. Auch wenn ich mal peripher wahrgenommen habe, dass es mir in Deutschland schon gut geht, merke ich jetzt erst so „richtig“, dass mein ganzes Leben, so wie ich es führen kann, keine Selbstverständlichkeit ist. Außerdem gibt es noch andere Dinge, die ich erst durch die Reise „richtig“ erfahre und damit meine ich, dass ich sie zum ersten Mal nicht mehr nur kognitiv wahrnehme, sondern sie tiefergehend verstehe, dass sie mich berühren. Und wieder bin ich an einem Punkt, von dem ich nie dachte, dass ich ihn erreiche. Vor der Reise hätte ich mir nie träumen lassen, was die Erlebnisse mit mir machen. Eine vage Idee war da, dass mich die Reise verändern würde, aber wie genau das aussehen würde, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Ich bekomme ein Gefühl von Dankbarkeit und Stolz, dass ich mich darauf eingelassen habe. Und gleichzeitig habe ich ein bisschen Angst davor, nicht mehr in mein „voriges Leben“ zu passen, nicht mehr in meinen Freundeskreis zu passen, mich nicht mehr wohl zu fühlen. Mich unbeliebt zu machen oder gar meine Freunde abzuschrecken, indem ich Gewohnheiten, Strukturen und unsere Gesellschaft in Frage stelle. Ich denke darüber nach, wie es wäre, zurückzugehen nach Köln und mich dort wieder „anzupassen“. Will ich das? Wenn ja, wie weit will ich mich anpassen? Geht es auch ohne mich anzupassen? Kann ich mir aussuchen, inwieweit ich mich anpasse? Was heißt anpassen?


Beispielsweise meine Klamotten. Durch die wenigen Klamotten (ich hab immer noch 3 Shirts dabei, muss ich dazu sagen), ist die Kleiderauswahl relativ einfach und überschaubar geworden. Das saubere Shirt wird abends angezogen, das dreckige/verschwitzte zum Fahrradfahren. Easy. Zu Hause ging es mir öfter so, dass ich irgendwie geschaut hab, dass meine Klamotten zueinander passen, ein schönen Gesamteindruck bieten. Zwar würde ich von mir behaupten, dass ich nie der Super-Stylo war und da auch nicht übermäßig viel Zeit in den Kauf oder die Auswahl meiner Kleider gesteckt habe. Und dennoch empfinde ich jetzt eine gewisse Erleichterung durch die Vereinfachung der Klamotten-Auswahl. Natürlich weiß ich nicht, wie das sein würde, wenn ich in Köln nur 3 T-Shirts hätte. Auf so einer Reise ist es ja schon eher egal, wie man rumläuft. Aber wenn ich das in einem Umfeld mache, in dem das sonst keiner macht und wo das nicht „normal“ ist, passe ich mich dann wieder an? Fühle ich mich dann noch wohl in meinen 3 T-Shirts? Passe ich mich an, um mich wieder wohl zu fühlen oder um nicht ausgeschlossen zu werden?

Inwieweit kann ich mein aktuelles „Reiseleben“ weiterführen in meinem Freundeskreis und generell einer Gesellschaft, in der viele Gewohnheiten dann vielleicht außergewöhnlich erscheinen? Kann ich da noch mit den Händen essen, was ich total gerne tue? Inwieweit passe ich mich an, weil das Durchsetzen oder Festhalten an etwas „Anderem“ dann zu anstrengend wird? Wie lange ist es anstrengend? Wird es vielleicht irgendwann als „normal“ angesehen und akzeptiert? Oder grenze ich mich damit vielleicht dauerhaft aus meinem Freundeskreis und der großen und kleinen Gesellschaft aus, in die ich dann wieder komme? Ich glaube nicht, dass meine Freunde oder Bekannte nicht tolerant sind – das wird nicht das Thema sein. Doch allein schon, wenn man die Erwartungen/“Normalitäten“ der Gesellschaft nicht erfüllt, werden Fragen gestellt und man kommt in die Lage, sich dafür erklären zu müssen, dass man es anders macht. Und das könnte auf Dauer schon anstrengend werden. Immer die gleichen Fragen beantworten zu müssen, sich vielleicht auch rechtfertigen zu müssen…….


Life is simple


Und dann hab ich noch darüber nachgedacht, dass ich es toll finde, durch die Einfachheit unseres Lebens wieder Dinge richtig schätzen zu lernen. Wie sehr war ich in Deutschland in meiner Wohnung an eine warme Dusche und immer genug Klopapier gewöhnt. Hier ist beides nicht mehr selbstverständlich. Mit dem Resultat, dass ich jedes Blatt Klopapier wertschätze. Und beispielsweise auch das Shampoo – Tipe haben eine neue Flasche „64 in 1“ (Shampoo, Waschmittel, Zahnpasta, etc. in einem) mitgebracht. In der alten Flasche war nur noch eine Bodendecke drin und ich bin sehr sparsam damit umgegangen. Und kaum hab ich die neue volle Flasche in der Hand, gehe ich verschwenderischer damit um. Das ist doch bescheuert, oder nicht? Macht es für mich vielleicht Sinn, mich selbst in eine künstliche Knappheit an Shampoo zu versetzen, damit ich es zu schätzen weiß und es sparsam einsetze? Ich hab sogar schon darüber nachgedacht, dass ich in meiner zukünftigen Wohnung immer nur eine Klopapierrolle parat halten will und den Rest der Packung verstecken oder schwer zugänglich aufbewahren möchte, um sicher zu stellen, dass ich nicht wieder 10 Blätter nehme, sondern höchstens 3. Denn bisher war es immer so, dass ich im Wanderurlaub super sparsam war und nach einer Woche zu Hause wieder bei 10 Blättern angelangt war. Ist es überhaupt gut, dass wir in Deutschland immer alles verfügbar haben? Und ich meistens auch genug Geld habe, um alles zu kaufen, was ich will? Wäre es nicht ressourcenschonender und –schätzender, wenn wir eine künstliche Knappheit erschaffen? Denn sobald ich etwas wieder zu schätzen weiß, stellt sich bei mir eine Dankbarkeit und Zufriedenheit ein. Das ist doch viel schöner J Kann man das auch erreichen, wenn man schon alles hat? Kann man diese Wertschätzung trotzdem fühlen? Mit Achtsamkeitstraining oder so?


In Kathmandu war ich an einem Nachmittag plötzlich voll im Shoppingfieber, allein weil wir durch die Shoppingstraßen gelaufen sind und überall Dinge gesehen haben, die man kaufen kann. Automatisch ist in Benno und mir ein Gefühl entstanden, dass wir ein paar der Dinge vielleicht brauchen könnten. Ich weiß, dass das eine Strategie der westlichen Medien ist, Leuten Dinge vor die Nase zu setzen und auf Plakaten und im Fernsehen viele Dinge zu zeigen, die man sich kaufen kann und dadurch das Gefühl zu erzeugen, dass man diese Dinge wirklich braucht. Aber so krass wie hier hab ich das noch nie empfunden. Den Unterschied zwischen „Meine Isomatte ist kaputt, ich muss jetzt auf dem Boden schlafen und brauche deshalb eine neue Isomatte“ und „Oh, das sieht schön aus. Das könnte mir gut stehen. Ich brauche das.“ Kaufe ich mir etwas aus dem ersten Grund, bin ich danach nachhaltig froh über den Kauf. Trifft der zweite Beweggrund zu, bin ich kurzzeitig befriedigt und merke dann nach ein paar Tagen, dass ich das neue Kleidungsstück gar nicht anziehe oder brauche.

Das war jetzt ein kleiner Auszug aus meinen Gedanken, die mich aktuell begleiten. Wenn jemand, der das liest, irgendwelche Ideen dazu hat oder etwas mit mir teilen möchte, dann freu ich mich total darüber! Am besten an weg@kerk-loh.de schreiben.

Ich bin gespannt, wie lange mein Helm noch passt oder ob mein Gehirn mit der Reise auch größer wird.. Immerhin hat er Löcher, durch die der Rauch entweichen kann. :)

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Benno und Marie

the cycling dreamteam on tour :)

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