Alles ist so fremd - Alles ist so vertraut
- B&M
- 17. Juni 2020
- 8 Min. Lesezeit
Die Fahrräder sind in die Fahrradkartons eingepackt und mit viel Klebeband gesichert – unser sonstiges Lebens-Equipment in unseren zwei großen Rücksacken und jeweils einem Handgepäckstück in Form einer hinteren Fahrradtasche – trotz Telefonaten und Recherche im Internet sind die Vorschriften der Gepäckgröße für den internationalen Flug mit Air India unklar – für den Inlandsflug von Guwahati nach Delhi konnten wir die Fahrradmitnahme buchen – für den Flug von Delhi nach Frankfurt ist unser Gepäck (jeweils die große Tasche + die Bikebox) viel zu groß – auf der Website steht, dass für Fluge nach Amerika bei unseren Gepäckmaßen 740$ Aufpreis entstehen würden – über Fluge nach Europa steht dort nix – es bleibt spannend
Seitdem wir die Flüge gebucht haben, nehmen wir Indien anders war:
der Hahn, der morgens um 5 Uhr meint, es wäre Zeit Lärm zu machen, ist irgendwie cool – auch der Müllwagen, der lauter ist als jeder Radiowecker – die Verkäufer, die um jede Rupie feilschen – wir nehmen alles mit Wehmut und Genuss intensiver wahr – ein komisches Gefühl, dass bald alles anders sein wird und es plötzlich so weit weg sein wird – das Abenteuer ist dann vorbei – Marie plädiert dafür zu sagen, dass es einfach ein anderes Abenteuer wird – in Europa ist es organsierter und weniger/ anders spannend – unsere Augen sind häufiger mal feucht – wir haben die Zeit in dieser anderen Welt sehr genossen – die Zeit mit den Andys in unserer WG ist auch bald vorbei – der Angestellte des Vermieters, der mit im Haus wohnt, sagt, dass er uns jetzt schon vermisst – es geht nicht ums Geld – es kommt vom Herzen – oh man, nach Pakistan und Indien haben wir uns auf den restlichen Teil von Süd-Ost-Asien sehr gefreut – es fühlt sich unfertig an – bei Benno kommen immer mal wieder Zweifel auf – vielleicht hätten wir doch noch ausharren sollen – trotzdem freuen wir uns sehr auf die hoffentlich baldige Freiheit und insbesondere auf viele fröhliche Wiedersehen – aber wie sieht es mit Quarantäne aus? – aus der Internetrecherche auf der Website des Bundeslandes Baden-Württemberg werden wir nicht schlau – wenn man aus Europa einreist, wird Quarantäne verhängt, wenn man aus einer Region kommt, in der es 50 Neuinfizierte pro 100 Einwohner gibt – in Indien sind es in den letzten 7 Tagen 0,7 pro 100 Einwohnern – achja, wir schauen mal, was passiert - Update 17.06.: die Regeln haben sich anscheinend nun doch wieder geändert - davon wollen wir aber nix wissen
Auf das organisierte Taxi nach Guwahati packen wir am 10.06. um ca. 5 Uhr morgens unsere Bikeboxen – genau ein Schaltjahr (366 Tage), nachdem wir aus Köln losgefahren sind – der Hahn schläft heute anscheinend aus – aus Sorge vor den Kosten hat der USA Andy sein Gepäck auf Handgepäck reduziert und schickt seine Bikebox mit Fahrrad + übriges Zeuch per Kurier für 350$ nach Amerika – mal sehen, ob dies klappt – der UK Andy hat nach vielem Hin und Her alles von seinem eh angerissenen Rahmen abmontiert und den Rahmen im Fahrradladen abgegeben – seine Bikebox zurechtgeschnitten und verkleinert, sodass es den Vorschriften entspricht – ein paar Stunden später will er zum Fahrradladen, und seinen Rahmen wieder abholen – die Taktiken sind sehr unterschiedlich und wir sind gespannt, ob es alles so funktioniert – Benno sagt, dass wenn das Fahrrad nicht mitfliegen darf, er dem Fahrrad weiterhin in Indien Gesellschaft leistet – auf der Taxifahrt von Shillong (1500 Hm) runter nach Guwahati (50 Hm) steigt neben den Temperaturen auch nochmal der Wehmut – die Landschaft ist exotisch – wir sehen Jackfruit-Bäume und staunen noch ein letztes Mal über Indien – am Flughafen werden unsere Taschen mit einem Wasser-Desinfektionsmittel-Gemisch eingesprüht – nach etwas Diskussion wird zumindest einer unseren beiden Fahrradkartons (aus Pappe) verschont – das Bodenpersonal versucht verzweifelt, die Social-Distance Maßnahmen durchzusetzen – es wird mehrfach mit einer Laserpistole aus unterschiedlichen Abständen Fieber gemessen – wir kommen durch – mit Face-Shield (Head in the clouds!) und Gesichtsmaske im Desinfektionsnebel geht es im Flugzeug nach Delhi – am Flughafen Delhi scheint es in Bezug auf Corona sehr gut organisiert zu sein – nach der Gepäckabholung suchen wir uns im klimatisierten Gebäude einen Schlafplatz – draußen sind es 42° - nachdem wir eine gute Schlafecke gefunden haben, wird es immer voller – wie auf einem Indoor Frisbee Turnier füllt sich die Halle mit Indern, die anscheinend auch dort übernachten – wir treffen John: ein geschiedener Kanadier mit deutschen Wurzeln, hat in einem buddhistischen Camp in Indien festgesessen, freut sich wieder mit Leuten zu quatschen, die ihn verstehen, seine Tochter lebt im 4-monatigen Wechsel auf einem Boot bei der Mutter (aktuell auf Bali) und dann 4 Monate bei ihm, Homeschooling ist in Canada kein Problem, findet er aber nicht gut, seine Tochter will es auch nicht mehr, die Situation ist problematisch, da die Mutter es anders sieht, die Gerichte in Kanada geben anscheinend nix auf den Wunsch der Tochter, er will auch nicht vor Gericht, wir fragen und fragen, auch der Buddhismus ist interessant, mit allem und jedem im Einklang leben, sich als Teil des Ganzen sehen – wir teilen unser Essen – er spendiert Jackfruit Salat – es schmeckt nach Indien – spannendes Essen – die Traurigkeit über den bevorstehenden Verlust dieser kulinarischen Besonderheiten überkommt Benno – um ca. 23 Uhr verabschieden wir uns von Andi USA – alle sind den Tränen nahe – die Stimmung in der Gepäck- bzw. Schlafhalle ist nett – alle Essen ihre Snacks und wir genießen noch einmal die Beobachtung der indischen Eigenarten – wir schlafen neben einer Mülltonne, die auch häufiger von den Indern benutzt wird, um nach intensivem Hochziehen aller Substanzen aus den Nasennebenhöhlen, genüsslich reinzurotzen – am nächsten Morgen geht es zum Flug nach Frankfurt – wir sind gespannt, wie es mit den Bikes laufen wird – Andi UK hat Probleme beim Migrationcheck, da er kein Weiterreiseticket nach England hat – nach etwas Diskussion und Unklarheit bucht er ein Zugticket für den nächsten Tag und kommt damit nach etwas Warten durch – wir habe inzwischen unser Gepäck abgegeben – der Air India Checkin Mitarbeiter zeigt auf unsere Bikeboxen und fragt: „How much weight?“ – „23kg“, sagen wir – „ok“ – ok? – Marie fragt nach: „Is it for free?“ – Yes – Juhuuu – danach müssen wir noch zum Migrationsoffice, um eine Ausreisegenehmigung zu erhalten, da unser Visa ja bereits vor ca. 3 Monaten abgelaufen ist – ist auch gratis – Juhuuu – Darshan scheint, wie versprochen, den ganzen Tag für uns gebetet zu haben – es läuft – Andi ist auch fertig und so passieren wir den Security-Check – noch durch eine Wärmebildkamera und dann zum Gate – am Gate bekommt Marie neben dem Safety-Packet (Faceshield, Gesichtsmaske, Desinfektionsmittel) noch einen Maleranzug, da sie einen Mittelsitz hat – in diesen Monturen geht es in den Flieger – die Mitflieger sind zu 99% Inder – es gibt keinen Service – das Essen steht in Plastiktüten auf dem Sitz – 8h von Delhi nach Köln – das Flugzeug fährt vom Gate zur Startbahn – und wieder zurück – irgendein Problem – der Abflug verzögert sich um 2h – die Klimaanlage läuft nicht auf 100% – es wird warm – Benno fängt an zu schwitzen – die Frau im Maleranzug noch mehr – die Mitflieger zweckentfremden die Face-Shields als Fächer – vom Vordermann bekommt Benno Luft zugefächert – hoffentlich ohne Coronaviren – aus Sicherheitsgründen und aus Sorge um unsere Mitbürger behält Benno seine Maske und das Faceshield während des ganzen Flug auf – mit der Aktion ist er eher in der Minderheit – als wir abheben, gibt es nochmal ein Emotionsfeuerwerk – auf nach Deutschland – dort, wo wir genau vor 12 Monaten und einem Tag losgefahren sind – nach etlichen Eindrücken, Abenteuern und ca. 9000 km – Marie ohne Platten – nun innerhalb von 8h zurück – wir sind dankbar für alles, was wir erleben durften – die Zeit verging wie im Flug – Marie dankt Benno – Benno dankt Marie – wir kommen um ca. 21 Uhr in Frankfurt an – bei der Einreise sagt der Polizeibeamte (ohne Maske) hinter der Glasscheibe nix über Quarantäne oder ähnliches (Update: 17.06.: Ob dies nun anders wäre?) – Andi muss sein Zugticket erneut vorzeigen – mit den Bikeboxen auf dem Gepäcktrolley flott und ohne Probleme durch den Zoll – Andi wird von einem deutschen Bekannten, bei dem er eine Nacht übernachten kann bevor er morgen weiter nach London fährt, abgeholt – wir verabschieden uns – noch ein letzter Blick auf seinen Rücken – mit seiner halben Fahrradbox, seinem Rucksack und seinem demontierten Fahrradlenker, von dem die Schalt- und Bremskabel runterhängen, schlendert er davon – dann ab zum Gleis und in den ICE nach Freiburg – 10 min bevor der Zug einfährt sind wir am Gleis – wir sind glücklich, dass alles wirklich top geklappt hat – um 00:35 Uhr empfängt uns Benno Bruder Christian am Bahnhof mit einem Lastenrad und zwei weiteren Fährrädern – das Wiedersehen ist wunderschön – so radeln wir, 43h nach Abfahrt aus Shillong, mit den Bikeboxen im Lastenrad zur Wohnung, wo wir am nächsten Morgen Bennos Nichte (10 Monate) kennenlernen dürfen
alles ist so fremd – alles ist so vertraut – alles ist interessant – die Menschen sind wieder dick – riechen nach Deo und/oder Parfüm – alles so professionell, perfekt und organisiert – Kinder auf Elektrorädern – der Verkehr hier ist anders – es gibt Regeln – die Autos fahren auf der anderen Seite – rechts vor links – eine krasse Umstellung – Schilder mit Verboten – fast schon gefährlicher Straßenverkehr für uns – alle sind so schnell unterwegs und keiner rechnet mehr damit, dass Leute chaotisch auf der Straße rumeiern – Wir sehen Autos deren Türen und/oder Kofferraum automatisch aufgehen – Leute auf Elektrorollern – eine ganz andere Welt – irgendwie science fiction – frisierte Hunde an der Leine – im Park kuscheln zwei Mädchen – eine andere trägt Kopftuch – aus den Leitungen kommt sogar Trinkwasser – die Dusche hat Wasserdruck – aus allen Leitungen kommt auch warmes Wasser, man muss einfach nur den Hebel drehen – die Stecker passen in die Steckdose und wackeln nicht – alles ist vorhanden und abrufbar – Backofen, Toaster, Kühlschrank, elektrische Kaffeemühle, Milchaufschäumer, ect. – und kein Stromausfall bis jetzt – es ist bizarr – im Thermomix kochen, crazy! – genau wie vor ca. 15 Monaten überholen wir die Bikes nochmal im Fahrradladen, in dem Christian jobbt – wir genießen die Zeit mit Amelie, Christian und Charlize – unsere merkwürdigen Emotionen beruhigen sich immer weiter – die Preise für Lebensmittel sind für uns grotesk – 1kg Lauch für 3€, auf dem Markt für 5€ – eine Kugel Eis für 1,3€ – wir werden noch 10 Tage oder so hier in Freiburg bleiben – dann radeln wir nach Stuttgart zu Maries Eltern – dann mit ein paar Zwischenstationen nach NRW – hier die ungefähre Route – wir warten noch auf explizite Einladungen!? – wir werden hoffentlich etwas Zeit mit Freunden und Familie verbringen können – wenn diese überhaupt Zeit finden – und suchen – wir würden uns darüber hinaus auch sehr freuen, wenn jemand Lust hat uns mal ´nen Stückchen zu begleiten – wir sind allerdings ziemlich außer Form inzwischen – mal sehen, mal sehen – ist auf jeden Fall sehr verrückt, wieder hier in Deutschland zu sein – es sind die vielen andersartigen Kleinigkeiten, die in der Summe so eigenartig auf uns wirken – es ist alles so anders – aber doch so vertraut – wir machen eine Radtour und besuchen ehemalige Mitbewohner Marie´s – es geht bergauf – auch ohne Gepäck sind die 35km und ca. 600Hm anstrengend – gut zum reinkommen – es gibt viel zu entdecken – wir sehen exotische Tiere – Raben, Störche, Fischreiher und dicke-fette, unwirklich wirkende Kühe – schöner Schwarzwald – oh wie schön ist Panama
PS: Wir sind nun auch wieder im deutschen Handynetz erreichbar 015773184559
01788762053
Achja und das Foto soll nicht bedeuten, dass unsere Reise nun zu Ende oder unterbrochen ist - es geht noch weiter :)
Wir haben noch ein paar neue Fotos im Indien II und Deutschland II Album hochgeladen
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